Fresko-Kunsträtsel

No. 02/2017

WER BIN ICH?

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte ich den jungen Mann am Nachbartisch, dessen Verwunderung ihm deutlich anzusehen war. Mit meinem grauen, um den Kopf gewundenen Schal und einem abgetragenen Mantel muss ich 70-Jährige im Café einen verwegenen Anblick geboten haben. In seinen Memoiren notierte der Schriftsteller, er habe mich für eine Wahrsagerin oder eine lichtscheue Nachtgestalt gehalten. Später erzählte ich ihm von meinem Leben; davon, dass ich mit den größten Malern des Jahrhunderts befreundet war. Ich lud ihn ein, mich in meinem Turm zu besuchen, wo ich ihm Bilder zeigen wollte, die er nie zuvor gesehen hatte. Die Förderung der Talente anderer war bis an mein Lebensende eine meiner Herzensangelegenheiten. Immer habe ich kreative Geister um mich geschart, die meinen Rat schätzten und meine geistreiche Persönlichkeit bewunderten. Mein Engagement für einen meiner Zöglinge ging so weit, dass ich die eigene Malerkarriere jahrelang unterbrach, nur um ihm, der bald mein Geliebter wurde, hilfreich zur Seite zu stehen – so lautet die gängige, überlieferte Version meines „Malverzichts“. Tatsächlich war es viel komplizierter.

Die Französin

Es war das Ergebnis einer unseligen Melange aus unerwiderter Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, künstlerischen Selbstzweifeln, Beziehungskonflikten und dem Machtspiel zweier Künstlerseelen. Schließlich gab ich seinem Drängen nach, die gemeinsame Heimat zu verlassen und mit ihm nach Süddeutschland zu ziehen, damit er dort sein Studium intensivieren konnte. Irgendwann – es waren rund zehn Jahre vergangen – fand auch ich zu meiner Malerei zurück. Auf einer ausgedehnten Reise in den Süden Frankreichs griff ich wieder zum Pinsel und Stift, meine Freunde begrüßten diese Wendung und nannten mich von nun an „Die Französin“. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges zwang meinen Geliebten und mich dazu, innerhalb von 24 Stunden das Land zu verlassen, und wir flohen Hals über Kopf in das neutrale Nachbarland. Unsere finanzielle Situation verschlechterte sich dramatisch, und nach 29 gemeinsamen Jahren trennte sich mein Lebensgefährte von mir, heiratete unser Dienstmädchen und zog zurück nach Deutschland. Ich blieb, malte, gründete eine Künstlergruppe und verdiente hin und wieder mit kleineren Auftragsarbeiten und dem Schreiben von Zeitungsartikeln meinen bescheidenen Lebensunterhalt. Die Lebenslust und meine Freude daran, neue Kontakte zu knüpfen, hat mich bis ins hohe Alter nicht verlassen. In dem Ort, in dem ich lebte, war ich beliebt, und als die „Nonna“ – wie sie mich im Dorf nannten – starb, folgte mir ein langer Trauerzug auf meinem letzten Weg.

Wer bin ich?

– Wer bin ich? –

Das Kunsträtsel mit Gewinnchancen

Unter den ersten 100 richtigen Einsendungen verlost der Hirmer Verlag fünf Bücherpakete im Wert von € 100,–.

Einsendungen an: fresko1@hirmerverlag.de

Auflösung des Kunsträtsels aus Fresko 01/2017: Egon Schiele (1890–1918)