Wenn Hyänen heulen

Der berührende Roman von Hanya Yanagihara

No. 01/2017

„ … für jeden guten Jurastudenten kommt eine Zeit, in der er feststellt, dass sich sein Blick auf eine bestimmte Weise verändert, in der er begreift, dass das Gesetz unausweichlich ist, dass keine Art der Interaktion, kein Aspekt des täglichen Lebens seinen langen Greiffingern entkommen kann. Jede Straße wird zum furchterregenden Desaster, einem Tumult aus Verstößen und potenziellen zivilrechtlichen Klagen. Die Welt wird vorübergehend unerträglich. Er konnte das.“

Er, das ist Jude St. Francis, als Findelkind von Klosterbrüdern aufgezogen, die Hauptfigur in Hanya Yanagiharas fulminantem Roman. Ein wenig Leben. Jude kann aber noch mehr: „Er sprach Deutsch und Französisch. Er kannte das Periodensystem auswendig. … Er hätte bei der Geburt eines Kalbes helfen, eine Lampe anschließen … können … Und dann wusste er noch Dinge, die er lieber nicht gewusst hätte …“ Diese Dinge sind es, die wirklich keiner von uns wissen möchte. Wenn „Judes Hyänen zu heulen beginnen …“, sich unsägliche Kindheitserlebnisse seiner bemächtigen, möchte man das Buch am liebsten weglegen. Doch Yanagiharas erzählerische Kraft ist wiederum so manipulativ, dass wir die 1000 Seiten zu Ende lesen. Komme, was wolle. Jude und seine drei Freunde, die zusammen das College besucht haben, ziehen in den 1990ern nach New York. JB wird Maler, dessen Bilder im MoMA ausgestellt werden. Malcolm jettet als Stararchitekt durch die Welt. Willem wird ein umjubelter Schauspieler und Jude ein gefragter Rechtsanwalt. Allmählich dreht sich in der Geschichte alles um ihn, den blendend aussehenden Hipster, voller schwarzer Geheimnisse, der sich um zwei Uhr morgens mit Rasierklingen Arme und Schenkel ritzt. Hanya Yanagihara, 1974 in Hawaii geboren, gewann den Kirkus Award und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize, des National Book Award und des Baileys Women’s Prize. Sie lässt uns in ihrem zweiten Roman 30 Jahre hautnah mit den vier Freunden und ihren Partnern zusammenleben. Wir tauchen ein in die Kunstwelt New Yorks, kochen vorzügliche Speisen, dürfen Mäuschen am Filmset sein, spitzen die Ohren, wenn es um die Schönheit der reinen Mathematik geht, und lernen, was es heißt, Freundschaft zu leben. Dieses große Buch hat den Rezensenten schwer beeindruckt, weil gerade die Passagen, in denen es darum geht, das Leiden des Nächsten nicht abnehmen zu können, sondern erdulden zu müssen, aus dem wahren Leben gegriffen sind. Wie ungemein schwer muss es für Jude sein, den Schleier seiner traumatisierten Seele vor den Augen seiner besten Freunde zu lüften. kh

Ein wenig Leben
Von Hanya Yanagihara
Hanser € 28,–