Taisa Nassers Apotheose

Deutschland-Auftritt einer brasilianischen Künstlerin

No. 01/2013

Von Elmar Zorn

Die perfekt glatten Bildoberflächen, auf die wir täglich tausendfach treffen, in der Warenästhetik der Werbewelt und der Produktwelt, dieser „schönen Haut“, hat die Künstler immer wieder zur Erfindung von Gegenwelten herausgefordert. Einer der Ausbrüche aus der hermetischen Oberfläche geschah in der Malerei des französischen Impressionismus, mit der Fragmentalisierung des durchgehenden Pinselstrichs in Anhäufungen von einzelnen, getupften Farbhügeln. Noch stärker und brutaler – wie der Name der Kunstbewegung der „Art Brut“ dies ausdrückt – verletzt die Malerei des Expressionismus die Konventionen des schönen Scheins der unmittelbaren Widerspiegelung der Wirklichkeit. Das „Wilde“ bricht seitdem in Abständen immer wieder durch, etwa in den frühen 1980er Jahren mit den „Neuen Wilden“ in Berlin, Düsseldorf, Köln und Wien. Es manifestiert sich in der Malerei in intensiven, schreienden Farben und in den Gestaltungen von dicken Farbaufträgen, die als pastos reliefartige Farbkörper auf die Leinwand appliziert werden. Das Phänomen der Farbe, die Befindlichkeit des Autors und die Beschaffenheit des Materials, die sie vermitteln, ist dabei das eigentliche Thema der künstlerischen Intervention.

Zum Großmeister solcher Thematisierung wurde der dänisch-belgische Maler Bram Bogart (1921– 2012). Mit seiner expressiven Behandlung der Farbe als zentraler künstlerischer Aussage hat er im Paris der 1950er und 60er Jahre zu seinem einzigartigen abstrakten Malstil gefunden. In direkter Nachbarschaft zu den CoBrA- und Informel-Künstlern Karel Appel und Corneille in der Rue Santeuil wurde er zum „Pioneer of Matter Painting“, der „Haute Pâte“.

In einer anderen Liga

Dieser für die Geschichte der zeitgenössischen Malerei höchst bemerkenswerte Beitrag von Bram Bogart hat ein Pendant gefunden: im Pariser Grand Palais mit der Ausstellung der großformatigen Gemälde von Taisa Nasser im November 2012 im Rahmen des Salon des Artistes Indépendants. Aus ihrer umfangreichen, von Texten zum Wesen und zum Ethos der Farbe begleiteten Präsentation der Tableaux gestaltete sie mit ihrem Team die Bild-Musik-Tanz-Film- Installation Lucidez/Lucidité. Vor diesem Auftritt, der auch von der Herausgabe eines gleichnamigen Werkbuches begleitet war, hatte die brasilianische, überwiegend in São Paulo lebende Künstlerin unter dem Titel Sturm 2011 in Berlin eine erste Einzelausstellung in den wunderschönen Hinterhofräumen der Galerie Forum Berlin am Meer. Diese wird vom Verein Kulturdepot betrieben und ist ausländischen Künstlern vorbehalten, die fern des gängigen Kunstbetriebs stehen. So ehrenvoll die Ziele dieser Galerie für einen internationalen Kulturaustausch auch sind, Taisa Nasser spielt in Brasilien eigentlich in einer anderen Liga und sollte das auch in den deutschsprachigen Ländern tun.

Freilich wird sie offensichtlich in diesen Wochen von den wichtigen Kunstkritikern, den großen Galeristen und Museen im deutschsprachigen Raum richtig entdeckt. Denn zu einer Einladung für die Vernissage einer Atelierausstellung in ihrem weitläufigen Pariser Studio im Schweizer Viertel am Marsfeld am 27. März werden einige Stars der Kunstszene kommen, so der zweimalige documenta-Chef Manfred Schneckenburger, der ehemalige Direktor des Kunstmuseums Bonn und jetzige Leiter des Forums für junge Kunst in Krems, Dieter Ronte, sowie der bekannte Kunstpublizist Heinz Peter Schwerfel.

Eine Palette von 144 Farbtönen

Es scheint, dass eine Wiederentdeckung des Pastosen in der Malerei bevorsteht, wie sie gewissermaßen vorbereitet wurde von den Publikationen Das Relief der Farbe von Matthias Krüger und Pastose Malerei, Farbkörper, Farbräume von Peter Anselm Riedl, Letzterer zweifellos einer der führenden Kunstkritiker Deutschlands. Eine Wiederentdeckung, die gerade die philosophischen und medientheoretischen Bedeutungen des Impasto würdigen, wie diese auch im Mittelpunkt von Taisa Nassers Reflexionen über ihre eigene Technik stehen.

Sie, die sich lieber als „Artiste plasticienne“, also als „plastische Künstlerin“ bezeichnet denn als Malerin (und ja auch praktizierende Architektin ist), hat eher Farbkörper denn Gemälde geschaff en, die der Betrachter wohl ganz anders wahrnehmen muss als herkömmliche abstrakte Malerei. Er sollte sich genügend Zeit nehmen, dem Verlauf der Farbballungen in ihren Kontrasten, Harmonien und vielfältigen Farbvariationen zu folgen, gerade weil das Bild nicht mit einem Blick voll erfassbar ist oder womöglich als banal erschiene, würde man es insgesamt und schnell erfahren wollen. Das Spannende bei Taisa Nasser ist ja gerade, dass die Betrachtung ihrer Werke heißt, sich in die Details zu versenken. Insofern überwiegen zu Recht in ihrem Katalogbuch die Detailabbildungen und legen die extreme Haptik des Farbauftrags offen.

Die implizite Aufforderung der Betrachter zur Meditation über Wesen und Substanz von Farbe in deren schier unbegrenzten Variationsmöglichkeiten – die Künstlerin erwähnt den Einsatz einer Palette von 144 Farbtönen, ohne Vermischung! –, kommt aus einer Disposition von Taisa Nasser, die sich mit „Philosophie der Chromatik“ und mit Mystik der Farbenkombinationen kennzeichnen lässt und ihrem brasilianischen kulturellen Umfeld geschuldet ist. Denn die Verbindung der Künstler ihres Landes, gerade wenn sie sich als expressionistische Maler verstanden haben, mit dem Kosmos stark intuitiv geprägter, irrationalistischer Naturreligionen, hat eine eigene, sinnliche Ausprägung des bildnerischen Expressionismus in Brasilien hervorgebracht. Der Kunsthistoriker Jacob Klintowitz aus São Paulo hat ausdrücklich auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht und sieht sie als Vollenderin dieser Kunstrichtung und des Kanons, den ihre Vertreter konstituiert haben.

Taisa Nasser ist jedoch mehr: sie erweckt den nordamerikanischen und den südamerikanischen sowie den europäischen Postexpressionismus in der Aufladung ihrer vor Farbenenergie berstenden abstrakten Pastos-Landschaften auf der Leinwand zu neuem Leben – auf Augenhöhe mit den großen Meistern der Malereigeschichte der Moderne. Früher oder später wird der Impetus ihrer Werke sich voll im Kunstgeschehen unserer Tage auswirken können: vielleicht schon beginnend mit der kommenden Ausstellung Taisa Nasser – Klarheit. Malerei. Installation. Film in der Brasilianischen Botschaft in Berlin, wobei das portugiesische „Lucidez“ oder das französische „Lucidité“ besser mit dem deutschen Wort „Klarsicht“ zu übersetzen wäre. Denn dass sie in ihrer Kunst der Farbe in deren introvertierten Bedeutungstiefen und Geheimnissen wie in deren extrovertierter Anstiftung zur Sinnenfreude ein großes Fest bereitet, wird sich schnell herumsprechen.

Taisa Nasser – Klarheit. Malerei. Installation.
Film in der Brasilianischen Botschaft, Berlin 
Vom 24. Mai bis 19. Juli 2013 
www.taisanasser.com