Fresko-Kunsträtsel

No. 02/2015

WER BIN ICH?

Als ich mit meiner jüngeren Tochter das Segelschiff bestieg, das uns nach Südamerika bringen sollte, war ich 52 Jahre alt. Ich hatte zwei Kinder geboren, mich von meinem Mann nach 20-jähriger Ehe getrennt, rund sechs Jahre in einer sektenähnlichen Gemeinschaft gelebt und unzählige Bilder gemalt. Eine allein reisende Frau, ohne männlichen Schutz, skandalös. Wenige meiner Freunde konnten es nachvollziehen, geschweige denn gutheißen, warum es dieses feuchte, heiße Land sein musste. Für mich war es die Erfüllung eines Traumes, nur hier würde ich nie zuvor gesehene Motive für meine Kunst finden, neue Erkenntnisse und Objekte sammeln, und wenn ich Glück hatte, dann würde ich diese Reise sogar überleben.

Fast hätten die Nörgler und Zweifler Recht behalten, mein Leben hing nach einer Malariaerkrankung an einem seidenen Faden. Und so kehrten meine Tochter und ich nach zwei Jahren, die ich überwiegend im Urwald verbracht hatte, zurück nach Europa. Vier lange Jahre arbeitete ich zusammen mit anderen Künstlern an der Herausgabe eines Werkes, für das ich bis heute berühmt bin. Die Herstellung hatte viel Geld verschlungen, vom Verkauf allein konnten die Kosten nicht gedeckt werden. So war ich gezwungen, meinen Lebensunterhalt durch Malunterricht oder gelegentlichen Handel mit Malutensilien aufzubessern. Dass man bei der Durchsetzung seiner Träume erfinderisch sein muss, hatte ich bereits als Kind gelernt. Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war, meine Mutter hatte wenig Zugang zur Kunst, und so stahl ich mich immer wieder heimlich auf den Dachboden, um dort nach Vorlagen zu zeichnen. Anders als im Märchen, in dem die böse Stiefmutter der Halbwaise den Alltag vergällt, trat mein Stiefvater in mein Leben. Er war ein Glücksfall. Als Maler erkannte er mein Potenzial, ließ mich ausbilden und beeinflusste anfangs vermutlich auch die Wahl meiner Bildmotive. Im Laufe der Zeit veränderte sich dies, Nebensächlichkeiten, die nur als Dekor gedacht waren, übernahmen die Regie in meinen Werken. Meiner Mutter flößten meine Bilder Unbehagen und Furcht ein, ich wurde damit allerdings zu einer Art Pionierin. Ein wenig rätselhaft dagegen bleibe ich als Mensch, denn ich hinterließ keine privaten Aufzeichnungen. Nicht einmal mein Grab kann man heute besuchen. Es war ein Armengrab, und keiner weiß, wo es sich befindet. Ich bin sicher, es wachsen Blumen darauf.

Wer bin ich?

– Wer bin ich?- 

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Auflösung des Kunsträtsels aus Fresko 1/2015: Clara Rilke-Westhoff (1878 –1954)